Nach dem ordentlichen Respekt vor Wintercanyoning, vermittelt durch den eher theoretisch orientierten bachab Wintercanyoning Kurs hatte ich mir gedacht: Sowas macht man, wenn überhaupt erstmal mit Leuten die sich da auskennen, und tastet sich vorher vorsichtig ran, wie das mit dem Material bei solchen Bedingungen funktioniert. Für diesen Winter war der Plan mal bei Gelegenheit erste Versuche zu starten, wie sich Eiswasser so anfühlt und wie das mit der eigenen Ausrüstung funktioniert.
Dann kam im Bachab Tourenchat von Alex und Steffi das Angebot Gries. An dem Datum hatte ich eine Höhlentour geplant die mich abhielt direkt in das Abenteuer Wintercanyoning zu starten, ich war darüber nicht wirklich traurig. Doch es kommt anders. Freitags früh erhalte ich die Nachricht, dass erkältungsbedingt die Höhlentour ausfällt. Ich frage bei Alex an, was ich denn brauchen würde, und ob noch ein Platz frei wäre, im Hinterkopf hoffend, dass irgendetwas essentielles fehlt oder die Tour ausgebucht ist und ich dieser leicht irren Idee nicht weiter folgen muss. Die Antwort kommt schnell. Platz wäre frei und die Ausrüstungsliste deckt sich fast komplett mit meinen vorhandenen Sachen. Okehhh, dann muss ich wohl.
Ich versuche meine Steigeisen an den Canyoning Schuhe zu befestigen, was nicht wirklich überzeugt und bestellte Grödel zum Expressabholen. Die Steigeisen kommen als Option B mit. Freitagabend starte ich von Karlsruhe aus nach Süden. Kurzer Stopp in Baden-Baden zum Abholen der Grödel und weiter nach Thun. Dort habe ich mir ein abgelegenes Plätzchen für die Übernachtung rausgesucht. Vor Ort verwerfe ich den Plan recht schnell. Es schneit ordentlich und ich befürchte am nächsten Morgen nicht mehr über irgendwelche Waldwege wegzukommen. Ein nicht ganz so ruhiges Industriegebiet muss als Ersatz herhalten.
Samstag früh mache ich mich dann auf den Weg zum Treffpunkt Parkplatz Tschinglen. Alex meinte ich würde vermutlich auch ohne 4×4 hinkommen. Bis 3km vor dem Ziel läuft es auch mit meinen alten Ganzjahresreifen noch ganz gut, dann kommt ein Schild: Ab hier nur 4×4 oder Schneeketten. Der Belag sieht nicht groß anders aus als zuvor, ich fahre einfach weiter. Nach 50m ist klar, dass wird nichts. Zur Bestätigung rutsche ich beim Aussteigen direkt aus. Ich ziehe die Schneeketten auf und fahre im Schneckentempo unter Gemurmel „warum musste ich mich schon wieder in so eine Situation bringen“ weiter bis zum Parkplatz.
Oben angekommen erstmal Frühstück und die Erkenntnis: Funkloch. Damit hatte ich nicht gerechnet, war aber vom Wintercanyonkurs vorgewarnt. Nach dem Frühstück trudeln nach und nach Alex, Steffi und die anderen Teilnehmer ein. Einige kenne ich schon vom Herbstcanyoning wo wir in fast derselben Konstellation schon im Rekordtempo durch die Schluchten geflitzt waren. Bekannte Gesichter und Leute von denen man weiß, dass sie wissen was sie tun, das gibt schonmal ein gutes Grundgefühl für so eine Unternehmung. Vielleicht hält es einen aber auch nur davon ab schreiend wegzulaufen solange es noch geht.
Nach dem alle Hände geschüttelt sind, stapfen wir los um den letzten Wasserfall und den Ausgang der Schlucht in Augenschein zu nehmen. Eis ist einiges zu sehen, der Wasserstand laut Alex OK. Grünes Licht für die Tour. Zurück zum Parkplatz und es stellt sich direkt die Frage: Was zieht man für den Aufstieg an? 40 Minuten Aufstieg, das dürfte trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt im Neo zu warm werden. Ich ziehe über meinen 260er Merino Baselayer eine Hardshellhose und eine wasserdichte Jacke an, die ich bereits im Sommer in der Schlucht getestet hatte. 5mm Neosocken in die Canyoningschuhe und die Grödel aufgezogen, in Ruhe zu kalt, aber mit schwerem Rucksack den Berg rauf passt es sehr gut.
Unterwegs ergeben sich immer wieder Blicke in die Schlucht und auf die helltürkiesen, von Eiszapfen eingerahmten Pools. Ich frage mich ob das wirklich so einladend ist, da reinzugehen. Irgendwie bin ich von der Idee nicht mehr so überzeugt wie am Freitag, als ein Wochenende auf der Couch drohte.
Nach gut 30 Minuten sind wir am Einstieg und schauen von der Brücke in die eisige Schlucht. Tief eingeschnitten und dunkel wirkt es mit dem ordentlich rauschenden Wasser nicht wirklich einladend, obwohl es schon faszinierend anzuschauen ist. Ich frage laut, wie bescheuert das eigentlich ist auf einer Skala von 1 bis 10. Alex meint: An der 10 kratzt es sicher. Ich schlucke, hatte ich doch gehofft, dass es objektiv nicht ganz so irre ist wie es mir gerade vorkommt.
Wir ziehen uns um. Aus den Schuhen raus werden die Füße direkt kalt. Neopren über den Baselayer, Gefrierbeutel über die Socken, Panzerband um den Bund und schnell wieder rein in die Schuhe. Da ich den Gurt schon angezogen habe, als mir die Hardshellhose auffällt, wandert sie in den Rucksack, muss ohne gehen. Haube auf, Helm drüber und Jacke zu. Mir ist warm. Die 3mm Neopren-Handschuhe ziehe ich als nächstes an. Sie haben links an den Kuppen 3 Löcher. Da habe ich sie bei der letzten Wasserhöhle durchgescheuert. Mist.
Kurzes Briefing von Alex, dann geht’s los. Der erste verschwindet nach unten es dauert eine Weile dann kommt das befürchtete: der Nächste Bitte. Kurze Nachfrage: Kommt man direkt in den Wasserstrahl? Die Antwort „Ja“, war nicht das was ich hören wollte, denn der gewünschte Nächste bin ich. Wieder stelle ich mir die Frage: Was tue ich da eigentlich? Hilft ja nix. Ab geht’s.
Der Wasserkontakt am Seil ist kurz, und meine Kombi hält dicht. Dann stehe ich schon bis zur Hüfte im Pool. Die Schuhe sind nicht dicht. Der nächste Abseilstand ist schon eingerichtet, ich werde eingewiesen wie ich aus dem Pool komme und kann als nächstes testen wie gut die Grödel auf dem teilvereisten Felsen funktionieren. Ziemlich gut wie sich herausstellt.
Der erste Kontakt mit dem kalten Wasser lief gar nicht mal so schlecht. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass das nicht direkt in die Katastrophe führt. Ich stehe dennoch ordentlich unter Adrenalin und die nächste Aufgabe ist meine: Abseilen und den nächsten Stand einbauen. Wieder geht es voll durch den Strahl, und diesmal bin ich der Erste, niemand unten der ggf. assistieren kann.
Bilder: Alex Arnold
Unterwegs achte ich auf loses Eis, dass ich so gut es geht abschlage, auf dass es mich später nicht von oben trifft. Dann hänge ich voll im Wasserfall. Sicht Null. Ruhe bewahren, weiter abseilen. Ausatmen, einatmen, alles gut. Reduzierung auf das Wesentliche.
Angekommen im Pool erstmal aus dem harten Wasserstrahl raus, die Schlucht hat ordentlich Wasser. Orientieren und weiter dem Wasser nach in eine Engstelle. Ich frage mich ob es mich gleich über die Kante zieht, aber ich finde guten Halt am Überlauf in den nächsten Fall und suche den Haken. Er ist komplett mit Eis überzogen und ziemlich weit oben eingebohrt. Etwas kaminklettern an vereisten Felswänden, dann kann ich mit meinem Messer das Eis abkratzen und den Ring freilegen, mich einhängen und den Stand aufbauen. Jetzt habe ich etwas Zeit zu merken, dass meine Hand sehr kalt ist. Ich versuche dem mit Kneten entgegenzuwirken. Rechts wirkt es, links gegen die Löcher komme ich nicht gut an. Löcher in Handschuhen: Nix Gutt. Dass diese Tour angenehm werden würde war allerdings auch nicht zu erwarten.
Bis alle 9 unserer Gruppe durch sind, hänge ich am Stand, immerhin nicht im Wasser, aber im kalten Luftzug, aufgepeppt mit Sprühwasser vom gerade bewältigten Fall. Die Optik ist krass. Von hinten seilen nach und nach die anderen Verrückten durch den Wasserstrahl in die tief eingeschnittene dunkele Kalkschlucht, was schon krass aussieht und mich mal wieder zur Frage bringt was ich hier eigentlich tue. Das Wochenende auf der Couch verliert so einiges an Schrecken.
Stirnlampen flackern und beleuchten den eingeschliffenen Fels, der auch hier fantastische Formationen zeigt, die vom Winter mit Eis überzogen und mit unzähligen Zapfen geschmückt sind. Eine völlig andere Optik. Krass und Gnadenlos, das ist einem direkt bewusst. Canyoning – Next Level. Fehler sollte man sich hier nicht leisten.
Ich bin froh als der Letzte durch ist und fürchte mich gleichzeitig vor dem Abbau und Abseilen. Kriege ich alles wieder ausgebaut mit den kalten Fingern? Warten die auf mich? Komme ich da gut runter? Immerhin konnte ich 8-mal zuschauen wie man da gut runterkommt und wie nicht. Möglichst weit oben bleiben und links halten, sonst gerät man in die Rinne und wird ordentlich runtergespült. Das möchte ich nicht nachmachen. Der Standabbau klappt und ich bewältige den nächsten Fall ohne eine Druckspülung im Eiswasser. Hier wird es jetzt recht dunkel. Die Stirnlampe offenbart eine krass schöne Umgebung die ich nicht so recht genießen kann. Seil abziehen und stopfen, dann weiter. Jetzt muss ich erstmal keinen Stand aufbauen und kann die nächsten Abseilstellen schnell hinter mich bringen. Ich bleibe in Bewegung und werde wieder wärmer. Nur Hände und Füße nicht.
Viel zu schnell bin ich wieder vorne und muss den nächsten Stand einrichten. Der Haken ist eisfrei, aber noch weiter oben eingebohrt. Kaminklettern 2.0. Hier ist es breiter und nur mit Spreizschritt komme ich in die Nähe des Hakens. Die angebotene Schulter zum draufstehen lasse ich mit den Grödeln mal lieber aus, und nehme einen angereichten Schnapphaken an steifer Bandschlinge zur Hilfe. So klappt der Einbau und wieder hänge ich in einer dunklen Schlucht mit Eiswasser an einer Felswand und reiche das Abseilseil an. Die Gruppe hat sich weiter über die Schlucht verteilt und es dauert immer mal wieder lange bis der Nächste kommt. Mit nichts Konkretem zu tun, bleibt viel Zeit zum Nachdenken und Beobachten wie das Seil langsam steif wird und einfriert. In solchen Situationen kommt es sehr darauf an nicht zu sehr in negative Gedanken zu verfallen. Es gibt zwar viele Faktoren die hier in die Katastrophe führen können, aber es gibt auch viele Gründe warum das nicht passiert. Das muss man sich klar machen und gegen die Gefahren Vorkehrungen treffen. Den Karabinerverschluss bewegen, das Seil frei machen und Pläne für eventuelle Notsituationen zurechtlegen.
Ich überlege ein paar Fotos zu machen, fürchte aber die Handschuhe nicht wieder an und die wasserdichte Hülle nicht wieder dicht zu bekommen. Da muss eine andere Lösung her sollte ich je verrückt genug sein, sowas nochmal zu machen.
Die letzten 3 der Truppe lassen sich richtig viel Zeit. Ich überlege wie lange ich noch warten kann. Oben ist ab und an mal Licht einer Stirnlampe entfernt zu sehen, aber niemand kommt. Versuchen die mit Lichtzeichen zu kommunizieren? Vermutlich nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen sie dann doch noch. Probleme mit dem Seil. Ich entspanne mich etwas und dann bin ich wieder letzter Mann. Die Anspannung ist direkt wieder zurück. Karabiner und Seil hatten reichlich Gelegenheit einzufrieren, alle Bandschlingen sind mittlerweile hartgefroren. Mir fällt wieder ein, dass Franz beim Winterkurs von Schraubkarabinern abriet und kann mir jetzt gut vorstellen warum.
Ich habe Glück und alles lässt sich lösen. Der regelmäßigen Bewegung sei Dank. Ich folge dem besten Beispiel wie die Stelle zu überwinden ist und nutze so den Vorteil des Standbetreuers voll aus. Die nächste Hürde wird mir als Schlüsselstelle des Canyons angekündigt. V5 muss ja irgendwo herkommen. Aus einem knietiefen Pool müssen wir 3m hoch und dann „einfach rüberspringen“. Aha. Ich zweifele an der Zurechnungsfähigkeit dessen der mir das erklärt. Das meint der sicher nicht ernst oder in dem Dialekt heißt springen was anderes als ich darunter verstehe.
Ich bin froh mich vom Höhlenklettern mit Aufstieg am Seil auszukennen und auch meine Klemmen dabeizuhaben. So komme ich problemlos aus dem Pool das Seil rauf. Anstrengend ist es unter diesen Bedingungen dennoch. Oben angekommen stehe ich auf der falschen Seite vom Stand. Man muss noch über eine Felsschulter drüber. Hoch das Bein und dann Abspringen so dass man drüber kommt. Die Felsschulter ist vereist, ebenso wie die Absprungstelle – klar. Soviel zu der Hoffnung das das ein Missverständnis war. Ich schaffe den Sprung. Ich reiche noch die Steigklemme an den Nachfolger weiter und seile ab. Der Canyon öffnet sich und präsentiert eine Ausstiegsmöglichkeit. Das lässt einen Großteil der Anspannung abfallen und die Verlockung hier auszusteigen ist definitiv nicht Null. Aber wenn man schonmal da ist, und es wärmetechnisch geht, dann wird durchgezogen. Die Merino-Neo Kombi funktioniert prima, nur Füße und Hände sind kalt. Soweit fühlt sich das erstaunlich machbar an.
Ein paar Meter geht es durchs Bachbett, teilweise vereist und mit Schnee bedeckt. Nicht immer trägt das Eis. Die Kulisse bietet heute wirklich einiges auf. Vorne verlangt es nach einem Seil, dummerweise habe ich eines dabei und so bin ich schon wieder mit Einbauen dran. Diesmal ist der Haken nicht weit oben, dafür aber weit draußen. Ich lerne von Alex ein paar Tricks und betreue den Stand bequem von der Seite ohne wieder lange abhängen zu müssen. Das lohnt sich richtig, denn einer der 3 letzten am „Sprung“ hatte dort zu kämpfen und war kurz davor den Heli zu rufen, wie ich nach einer ganzen Weile erfahre. Den Heli brauchte es dann doch nicht, aber es kostet uns eine Wartezeit, die ich zum Glück nicht hängend verbringen muss.
Die Schlucht wird nochmal eingeschnitten und wir duschen das ein oder andere Mal im Eiswasser. Eine besonders schöne Stelle mit Eisvorhang über dem Wasser lädt ein, entweder drüber zu klettern oder drunter durch zu tauchen, ich wähle für das gute Video den Gesichtsfrost um dann später zu hören: Falsche Einstellung, Material unbrauchbar.
Dann stehen wir oberhalb vom Endpool – der Parkplatz ist schon in Sicht. Hier kann man zur Abwechslung springen. Mit dem Sprung fällt die Anspannung ab und nach dem Auftauchen hagelt es Abklatscher und Umarmungen. Erst jetzt sind wir safe und können anfangen zu verstehen was wir da gerade gemacht haben. Ich höre viele Beschreibungen und Varianten von „ganz schön krass“.
Wie krass das war, merkt man erst jetzt, wenn die Last der Gefahr und die Ungewissheit die man unterbewusst und bewusst verspürt und mitgeschleppt hat abfällt, und sich dieses unbeschreibliche Glücksgefühl einstellt das einen später immer wieder antreibt so einen krassen Scheiss zu machen, auch wenn man sich im Moment ziemlich sicher ist, das so bald nicht wieder zu machen.
Ein paar Meter sind es bis zu den Fahrzeugen, umziehen, trockenlegen und dann werden die verbrauchten Kalorien mit allerlei Leckereien aufgefüllt. Von den Brownies heißt es dass sie in etwa einer Stunde gute Laune machen. Das ist allerdings nicht auf eventuelle psychedelische Indegrienzien zurückzuführen, sondern auf das zuvor Erlebte. So einfach kommen wir nicht zu solcher guten Laune.
Nachdem ich die Abfahrt auf Schneeketten und nur einmal ausbrechendem Heck gemeistert habe, halte ich erstmal an und taue die Füße und Hände vor der Standheizung auf. Mit dem Gefühl kommt der Schmerz zurück. Die Fingerkuppen unter den Löchern hat es mehr mitgenommen als die Füße.
Das Erstaunen, dass es einem möglich ist, sich zu Dingen zu ermächtigen, die vorher komplett irre erscheinen ist es immer wieder wert, sich in unbequeme Zonen außerhalb des Komforts zu begeben. Am eigenen Leib zu erleben wie durch Training, Beharrlichkeit und gute Gesellschaft aus Irre und Abwegig zunächst Denkbar, Machbar und schließlich Gemacht werden, ist eines der Wunder unserer Existenz und ich würde das um Nichts in dieser Welt missen wollen.
Vielen Dank an unsere verrückte internationale Truppe, bachab für den Kontakt zu einer ausreichenden Menge an Wahnsinnigen, Alle die beitrugen diese Erfahrung möglich zu machen und an Alex und Steffi für die Einladung zu diesem Irren Erlebnis.
Christoph Cramer